Artikel von Dr. med. Anne-Kathrin Nethe im BREMER ÄRZTEJOURNAL über psycho-somatische Erkrankungen
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Vortrag von Dr. Anne-Kathrin Nethe vor Patienten im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Hautnah" der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen am 25.6.2014

Psychosomatische Erkrankungen

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

unser gemeinsames Thema heute sind die so genannten Psychosomatischen Erkrankungen, und ich werde Ihnen aus meiner Position als Hausärztin berichten. Wir Hausärzte und Hausärztinnen sind oft entweder die ersten Ansprechpartner betroffener Patienten oder früh konfrontiert mit Symptomen, die sich im weiteren Verlauf als PS herausstellen.

 

Was sind nun Psychosomatische Erkrankungen – oder somatoforme Störungen, wie wir Ärzte sagen? 

In dem Wort „Psychosomatik“ tauchen die Begriffe „Psyche“ – Seele und „Soma“ – Körper auf. Diese Teile unseres Wesens reagieren aufeinander, sprechen sozusagen miteinander, und bei einer Erkrankung können sich durch diese Zusammenhänge Symptome und Beschwerden ausbilden, die bei flüchtigem Hinsehen erstmal irritierend wenig miteinander zu tun haben. 

 

Psychosomatische Zusammenhänge kennt der Volksmund seit langem. So „bricht uns das Herz“, wenn etwas Trauriges geschieht, ein Ärger „liegt wie ein Stein im Magen“. Menschen sind „dünnhäutig“ oder „dickfellig“. Zu viel Informationen machen uns „Kopfzerbrechen“, von der Konfrontation mit unserem Chef kriegen wir „so’n Hals“. Diese Liste lässt sich fortsetzen, jeder kennt und nutzt diese Sprüche, um klar zu stellen, wie ein bestimmtes Erleben sich auf den Körper auswirkt. 

 

Ich will zwei Beispiele nennen, um Ihnen Körper-Seele-Zusammenhänge etwas deutlicher zu machen: 

Erstens: Ein Patient leidet an einer Krebserkrankung. Da ist es immerhin sehr verständlich, wenn zusätzlich ein seelisches Leid auftritt, z.B. Angst, Zorn, Traurigkeit bis zur Depression usw. 

Zweitens: Etwas schwieriger ist dieser Fall: Ein Mensch macht sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz, hat seinen Partner verloren, hat ein krankes oder drogenabhängiges Kind – oder was man sich an Schwierigkeiten im Leben so ausmalen kann. Auf diese seelischen Faktoren reagiert natürlich auch der Körper, denn er lebt nicht abgekoppelt von uns. So kann dieser Mensch plötzlich schwere Rückenschmerzen bekommen. Er hat ja auch „ein Päckchen zu tragen“. Interessanterweise ist der gerade geschilderte Zusammenhang für die Patienten oft schwer zu verstehen und anzunehmen. 

Wie es kommt, dass körperliche Beschwerden als Ausdruck eines seelischen Leidens auftreten und warum es oft so schwer ist, das zu akzeptieren, wird Frau Dr. Sterly gleich noch genauer ausführen. 

(Ich vermute ganz persönlich, dass alte Verhaltensmuster eine Rolle spielen: von „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ bis „Jungs weinen nicht“, und was es da noch so alles aus alter preußischer Tradition gibt.)

 

Sind Psychosomatische Beschwerden oder Erkrankungen häufig? 

Ja, das sind sie. Ich schätze in unserer Hausarzt-Praxis den Anteil von psychosomatischen Beschwerden – nicht unbedingt immer im Sinne von Krankheiten, eher Symptome aus dem psychosomatischen Bereich - auf deutlich über 50%. Und ganz klar: Häufig sind diese Beschwerden nicht deshalb, weil die Patienten zu empfindlich geworden sind, sondern weil Körper-Seele-Zusammenhänge normal sind. Wichtig ist es, die Beschwerden, die den Patienten in eine Arztpraxis führen, auch ernst zu nehmen und sachlich abzuklären.

 

Welche konkreten Beschwerden können auftreten?

Es können an allen Regionen unseres Körpers Symptome oder Beschwerden auftreten, die denen von spezifischen körperlichen Krankheiten ähneln. Typische Konstellationen möchte ich Ihnen vorstellen und die Untersuchungswege zur Abklärung beschreiben.

 

1. Brustbeschwerden. Patienten berichten über Stiche in der Brust, fast immer linksseitig, aber auch Engegefühl und Druck. Diese Symptome können bei beliebiger Gelegenheit auftreten, vorwiegend aber, wenn die Patienten zur Ruhe kommen wollen, abends und auch nachts. 

 

2. Herzstolpern, -klopfen, „harter Herzschlag“. Auch diese Beschwerden treten überwiegend in Ruhe auf. Nach einer genauen Befragung wird Ihr Arzt/Ärztin jetzt Ihren Blutdruck messen, Herz und Lunge abhören, eventuell ein EKG anfertigen. Durch diese Maßnahmen können z.B. Blutdruckprobleme, echte Herzrhythmusstörungen, ein Herzinfarkt, „Wasser in der Lunge“ und andere schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen abgegrenzt werden. Wenn sich Symptome nicht ausreichend klären lassen, kann z.B. ein Blut-Schnell-Test auf Herzenzyme den Herzinfarkt sicherer ausschließen oder ein Herzultraschall zur Abklärung von Herzschwäche, Herzfehler uvm. veranlasst werden. Ein Belastungs-EKG hilft, Beschwerden durch Trainingsmangel von einer Herzerkrankung abzugrenzen. Am Ende steht bei wirklich unklaren anhaltenden Symptomen eine Myokard-Szintigrafie zur Klärung von Sauerstoff-Unterversorgung im Herzmuskel oder auch ein Herzkatheter. Bitte sehr wichtig: Nur in den seltensten Fällen ist eine solche Maximaldiagnostik wirklich notwendig, fast immer lassen sich die Beschwerden vorher mit den genannten Verfahren klären. Ganz sicher muss nicht JEDER Patient mit Brustbeschwerden einen Kardiologen aufsuchen.

 

3. Luftnot. Auch dieses Symptom wird häufig genannt. Wie immer gehört eine genaue Befragung an die erste Stelle einer Abklärung, danach die körperliche Untersuchung. Eine Lungenfunktion hilft, ein eingeschränktes Lungenvolumen oder eine Asthmaerkrankung aufzudecken. Die „kleine“ Lungenfunktion machen viele Hausärzte; eine genauere und aufwendigere Lungenfunktion kann bei speziellen Fragestellungen der LungenFA anfertigen. Ein Röntgenbild der Lungen kann notwendig werden, wenn z.B. über Wochen Hustenreiz besteht. Bei sehr speziellen Fragestellungen kommen ein CT oder ein Kernspin des Brustkorbes in Frage. 

 

4. Bauchschmerzen, Stuhlauffälligkeiten, Durchfälle, Verstopfung usw. Die Untersuchung des Bauches mit Abtastung ist unabdingbar, um ein akutes entzündliches Geschehen wie z.B. eine Blinddarmentzündung nicht zu übersehen. In sehr vielen Hausarztpraxen kann ein Bauch-Ultraschall angefertigt werden, um z.B. nach Gallen- oder Nierensteinen zu fahnden, Krankheitsprozesse an Leber, Milz, Bauchschlagader oder am Darm zu entdecken. Auch hier gilt: Bei speziellen Fragestellungen oder nicht zu klärenden oder sehr hartnäckigen Symptomen oder so genannten Alarmzeichen (Gewichtsverlust, Blutungen, Nachtschweiß) kann es notwendig werden, den Patienten zu einem Gastroenterologen zu überweisen, damit eine Magenspiegelung oder eine Darmspiegelung oder eine Gallengangsspiegelung durchgeführt werden. CT oder Kernspin spielen u.U. bei der Abklärung ebenfalls eine Rolle.

 

5. Schmerzen. Schmerzen oder Schmerzsyndrome stellen eines der ganz ganz großen Probleme in der Behandlung sowohl bei Ärzten als auch bei Psychotherapeuten dar. Ganz klar: Es gibt Schmerzzustände, ohne dass dafür ein körperlicher Befund vorliegen muss. Die Erklärung dafür fällt schwer, eindeutig geklärt ist das Ganze m. E. ohnehin noch nicht. Die Theorie geht dahin, dass am Anfang irgendein – wohl körperliches – Geschehen einen Schmerz auslöst und dass dieser Schmerz sich dann verselbstständigt. Letzteres hat mit der Art der Schmerzverarbeitung in unserem Körper und mit unserer seelischen Verfassung zu tun. Diese Schmerzzustände können am ganzen Körper auftreten, überwiegend als Schmerzen im Bewegungsapparat, als Kopfschmerzen und wieder als Brust- oder Bauchschmerzen. Letztlich erfordern auch diese Schmerzsyndrome eine Reihe von Untersuchungen, häufig sehr viele Röntgen-, CT- oder MRT-Untersuchungen, die Mitarbeit des Orthopäden, Neurologen oder Neurochirurgen. Wie irritierend diese Schmerzzustände sein können, kann man an der Tatsache ablesen, dass z.B. im Falle von Rückenschmerzen die radiologischen Befunde und die Beschwerden der Patienten häufiger nicht zusammen passen. Der Moment, an dem die Ärzte dem Patienten sagen müssen: „Wir haben nichts gefunden, was Deine Beschwerden erklärt“ ist oft von großer Ratlosigkeit auf beiden Seiten(!) gekennzeichnet.

 

Welche Möglichkeiten der Behandlung gibt es?

Fast alle Hausärzte sind in der so genannten Psychosomatischen Grundversorgung ausgebildet.

- Hier lernen und üben Hausärzte/-innen das Ansprechen und Erkennen psychischer, familiärer und sozialer Belastungsfaktoren im Gespräch mit dem Patienten

- Daraus ergibt sich die sensible Aufklärung des Patienten über die Untersuchungsergebnisse. Der alte Klassiker: „Das ist nur psychisch“ ist dabei sicher nicht hilfreich. Die mit auslösenden seelisch-psychischen Faktoren sollten aber undramatisch und als Teil der Normalität angesprochen und erklärt werden.

- In einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung können so Strategien der Klärung und ggf. Lösung von Problemen gemeinsam besprochen, Hilfe zur Selbsthilfe eingeleitet werden. 

- Die Patienten sollten eine gute Anbindung an die hausärztliche Praxis erhalten, um 1.) die Behandlungsplanung in einer Hand zu behalten, 2.) unnötige Diagnostik und Medikation zu vermeiden, 3.) Eine geeignete Therapie einzuleiten

 

Wenn mit einer hinreichenden Sicherheit geklärt werden konnte, dass die Beschwerden oder Symptome eines Patienten eine eher psychosomatische Ursache haben, wenn also eine spezifische körperliche Krankheit ausgeschlossen werden konnte – oder wenn psychosomatische Symptome eine körperliche Krankheit begleiten – dann sollten auch diese Beschwerden gezielt behandelt werden. Leider gehen PS-Beschwerden durchaus nicht immer von alleine weg, auch wenn man versteht, warum sie jetzt und in dieser Form aufgetreten sind. 

Es gibt folgende Möglichkeiten:

- Sinnvoll und pragmatisch sind ein körperliches Ausdauertraining und Entspannungsübungen wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung

- Man kann mit Medikamenten behandeln, um einen gewissen „Abstand“ zu den Beschwerden herzustellen, sie sind dann weniger störend. Übliche Medikamente heißen z.B. Opipramol oder Citalopram (auch andere Antidepressiva. Verordnung gerne in Zusammenarbeit mit einem Neurologen/Psychiater etc.)

- Psychotherapie: Es gibt verschiedene Verfahren wie Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Methoden

- Natürlich können sehr störende oder quälende Symptome auch mit anderen medizinischen Maßnahmen behandelt werden, Herzklopfen z.B. mit einem ß-Blocker, Verdauungsstörungen oder Diarrhoen mit Flohsamenschalen etc.

 

Wie gesagt sind wir Hausärzte und –innen ganz häufig erster Ansprechpartner für Patienten mit psychosomatischen Beschwerden. Ich möchte Ihnen abschließend einige Gedanken – wenn man so will: Regeln - zusammenfassen, welche in der Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Patient eine Rolle spielen: 

 

Beschwerden, die an eine PS-Erkrankung denken lassen, sollten einmal(!) genau und ernsthaft abgeklärt werden. Dazu gehört natürlich eine Befragung durch den Arzt, die körperliche Untersuchung und mehr oder weniger viele apparative Untersuchungen. Wenn die Diagnose klar ist, werden diese Untersuchungen nicht wiederholt. Also kein MRT vom Kopf alle Vierteljahre, um zu schauen, ob da immer noch nichts ist.

- Die meisten derartigen Beschwerden lassen sich mit wenig Aufwand einordnen und erklären. Keinesfalls gehört jeder Patient zum Facharzt, zum Herzkatheter, zum MRT usw.

 

Liebe Patienten, wandern Sie mit Ihren Beschwerden nicht von einem Doktor zum anderen, nur weil nichts gefunden wird. Eine gute Diagnostik erkennen Sie daran, dass Ihr Arzt/Ärztin Sie genau befragt, Sie körperlich untersucht, Ihnen Sinn und Unsinn weiterer möglicher Maßnahmen erläutert und die Befunde erklärt. Einen guten Arzt erkennen Sie NICHT daran, dass Sie mit einem halben Dutzend Überweisungen auf den Parcours gehen. 

 

Vorsicht mit Ratschlägen aus dem Internet. Für jede noch so schrullige Idee findet sich dort ein Kommentar von irgend jemandem, der „genau das gleiche“ hatte und den nie einer ernst genommen hat und der jetzt „Spät-Borreliose“ hat oder Vitamin-D-Mangel oder eine Wasserader unter dem Bett. Ich jedenfalls lasse mir die Internet-Ausdrucke meiner Patienten zeigen und sage meine Meinung dazu – lehne also das Internet nicht ab, sondern kommentiere es. 

 

Ein kritischer Umgang mit „unkonventionellen“ Diagnostik-Verfahren ist angebracht. Viele – nicht alle – Untersuchungsmöglichkeiten, die für teures Geld angeboten werden, sind sinnlos. Schlimmstenfalls werden Befunde erhoben, die nicht gut interpretierbar sind, den betroffenen Patienten aber hochgradig irritieren oder ängstigen. Im Zweifelsfall sollte der gesunde Menschenverstand befragt werden.

 

Dieses wichtige Fazit am Schluss: Beschwerden sind allermeistens nicht „nur“ Körper oder „nur“ Psyche. Dieses Schubladendenken ist wenig hilfreich beim Verständnis und bei der Akzeptanz der Erkrankung. Und es blockiert den Zugang zu einer Erfolg versprechenden Therapie. 

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.